Aufgepasst: Wenn die Zunge zum Verräter wird
Um mit anderen Menschen zu kommunizieren, müssen wir nicht immer auf Sprache zurückgreifen. Oftmals ist mit nonverbaler Kommunikation, etwa unserer Körpersprache, mehr gesagt als mit vielen Worten. Ein Schulterzucken reicht, um Ahnungslosigkeit auszudrücken, eine passende Handbewegung, um jemanden heranzuwinken. Aber auch die Zunge kann zum „Verräter“ wichtiger Informationen werden. Dass diese Tatsache sogar vor den Augen der Weltöffentlichkeit zum Nachteil werden kann, zeigt ein Beispiel aus dem Leistungssport.
Was ist eine Tenniszunge? Sie stellt ein neues Phänomen dar und ist erst vor wenigen Jahren bei einem Treffen zweier Ausnahmesportler überhaupt bekannt geworden. Noch heute lässt ein kurzer und zunächst rein privater Dialog der beiden die Gefühle von Tennisfans und breitem Publikum zwischen Bewunderung und Fassungslosigkeit changieren. Das alles begann klassisch mit Holzhammer und Zapfhahn.
Auf dem Oktoberfest wird so manche Zunge gelockert. Und mit etwas Glück wird sogar ein Geheimnis preisgegeben, dass in der Welt des Spitzensports über Sieg und Niederlage entschieden hat.
O’zapft is!
O’zapft is! – Nach dem traditionellen Bieranstich im Schottenhamel-Festzelt freuen sich tausende trockene Kehlen und lechzende Zungen auf eine friedliche Wiesn. Zwischen Dirndln und Lederhosen treffen sich auf dem Münchner Oktoberfest alte Hasen und Newcomer aus aller Welt. Die Aufmerksamkeit gilt dem Maßkrug und auch dem Drumherum aus Fahrgeschäften und bayerischen Originalen, wie Horst und Tobias Berger. Unweit der Bavaria legen die beiden Vogelpfeifer ihre speziellen Instrumente auf die Spitzen ihrer Zungen und imitieren damit allerlei Vogelstimmen.
Was lange ein Geheimnis war, platzt in lockerer Atmosphäre auf dem Oktoberfest mitunter einfach so heraus.
Inmitten der gemütlichen bis aufgekratzten Stimmung löst der Gerstensaft so manche schwere Zunge. Dann kommt zuweilen eine Ungeheuerlichkeit ans Tageslicht, die ein unruhiges Herz über Jahre verborgen hielt, und der Mund läuft plötzlich über von dieser unerhörten Neuigkeit. Schon wenig später pfeifen neugierige Spatzen sie von den Dächern der Zelte.
Legendäres Treffen zweier Legenden
Da saßen einst zwischen den Dirndln und Lederhosen Boris Becker und Andre Agassi bei ihren Maßkrügen. Der ehemals siebzehnjährige Leimener (Wimbledon, 1985) und der sage und schreibe sechzigfache Einzeltitel-Gewinner hatten während ihrer schon zurückliegenden aktiven Zeit Tennisgeschichte geschrieben. Die persönliche Bilanz zwischen den beiden: Im direkten Vergleich lag Agassi nach zunächst drei Niederlagen gegen Boris Becker am Ende doch mit zehn zu vier deutlich im Vorteil.
Im Münchner Olympiapark verewigt, auf dem Münchner Oktoberfest mit einem „Zungen-Geheimnis“ geschockt: Tennislegende Boris Becker.
Dabei hielten sich die beiden Tennis-Asse über weite Strecken die Waage. Da fragte sich mancher Zuschauer und namentlich die Boris-Fans unter ihnen, warum denn in der Mehrzahl der Matches Agassi seinem Rivalen das entscheidende Spiel voraus war? Das Geheimnis um dieses „Zünglein an der Waage“ lüftete Andre Agassi auf dem Münchner Oktoberfest.
Dazu muss man sich zunächst an die gefürchteten Aufschläge Boris Beckers erinnern. Parieren konnte die niemand. Es handelte sich um ein völlig neues Phänomen im Tennissport. Nur Agassi fand eine Antwort darauf, doch nutzte er den „Zauber“ in Maßen. So konnte ihm niemand auf die Schliche kommen und schlimmstenfalls entdecken, wie er die Richtung des Balls vorausahnte.
Die Andre-Art zu lesen
Nach Agassis eigenem Empfinden brach es auf dem Oktoberfest plötzlich aus ihm heraus, und er fragte Boris recht unvermittelt, ob er denn wisse, wie er seinen Aufschlag verraten habe. Becker war daraufhin ziemlich konsterniert. Er erinnerte sich daran, wie er nach den verlorenen Spielen zu seiner Frau gesagt habe: „Es ist, als ob Andre meine Gedanken liest!“
Tennis-Ikone und Leser der Zunge? Andre Agassi nutzte einen verblüffenden Trick, um Boris Becker zu schlagen.
Damit hatte er den Nagel fast auf den Kopf getroffen. Denn Agassi las tatsächlich – allerdings Boris Beckers Zunge. Aufgrund vieler Videoaufnahmen hatte er ihre Bewegungen analysiert und festgestellt: Kam sie geradeaus aus Beckers Mund, so schlug er seinen Ball in die Spielfeldmitte oder direkt auf Agassis Körper. Zeigte sie jedoch nach links, so landete der Ball nahe der seitlichen Begrenzung des Spielfeldes.
Wie wenn der Torwart bei einem Elfmeter aus dem Schützen herauslesen könnte, ob er nach links oder rechts, nach oben oder unten zielt! Da könnte er sich auch vorausschauend in die richtige Richtung bewegen und viel mehr Strafstöße halten.
Nach derselben Logik war Agassi dank seinem Spezialwissen um die Tenniszunge seines Gegenüber jetzt einen Tick schneller mit dem Schläger am Ball – wenn er wollte. Denn auch das muss man als Profi draufhaben: Du darfst deinem Gegner dein Geheimrezept nicht preisgeben. Er soll sich in Sicherheit wiegen, und du nutzt deinen Vorteil nur dann, wenn ein Spiel auf der Kippe steht. Das ist meisterhafte Taktik – darum die Zehn-zu-vier-Bilanz, darum die späte Enthüllung auf dem Oktoberfest nach dem Motto: „Jetzt kann ich es ja sagen.“
Der Rest ist schnell erzählt
Was lernen wir aus der Geschichte? Ganz klar: Wer ein begnadeter Sportler ist und obendrein auch noch eine ausgefuchste Zungendiagnostik einsetzt, der kann sehr viele Tennisspiele gewinnen.
Doch mal ganz ehrlich: Auf wie viele von uns trifft diese Beschreibung zu? Da ist es doch gut zu wissen, dass unsere Zunge auch im ganz normalen Alltag ein „Verräter“ sein kein – in vielen Fällen sogar zu unserem Vorteil!
Man muss kein Profisportler sein, um von einer genauen Beobachtung der Zunge profitieren zu können.
Denn tatsächlich kann die Zunge wertvolle Hinweise auf den allgemeinen Gesundheitszustand einer Person geben. Das Aussehen, die Oberflächenbeschaffenheit und das sensorische Empfinden der Zunge stehen mit verschiedenen Erkrankungen im Zusammenhang.
Die Pilzinfektion „Mundsoor“ (Candidiasis) kann zu weißen, cremigen Flecken auf der Zunge und den inneren Wangen führen. Sie tritt häufig bei Personen mit geschwächtem Immunsystem, schlecht eingestelltem Diabetes oder bei Einnahme von Antibiotika auf. Die Landkartenzunge (benigne migratorische Glossitis) verursacht rote, unregelmäßig geformte Flecken auf der Zunge. Das kann Unbehagen oder Empfindlichkeit hervorrufen, ist aber in der Regel harmlos.
Die Landkartenzunge kommt nicht etwa vom vielen Fragen nach dem Weg – vielmehr können Stress, Allergien und hormonelle Veränderungen die Ursache sein.
Die Schwarze Haarzunge entsteht durch das Herauswachsen winziger Fortsätze auf der Zunge (Papillen). Diese „Haare“ sind dann länger als normal und können schwarz oder dunkelbraun erscheinen. Dieser Zustand hält mitunter länger an und ist vor allem aus ästhetischer Sicht nicht besonders erfreulich. Ein brennendes oder schweißtreibendes Gefühl auf der Zunge und manchmal auch an anderen Stellen im Mund kann mit hormonellen Veränderungen, Ernährungsmängeln oder Allergien zusammenhängen; Grund zu übermäßiger Sorge besteht auch hier nicht. Vielfach können Zungenreiniger helfen, Verfärbungen der Zunge und Beläge, die nicht dort hingehören, zu entfernen.
Schmerzhafte Geschwüre auf der Zunge können durch eine Vielzahl von Faktoren verursacht werden, darunter Traumata, Virusinfektionen (wie Herpes) oder Grunderkrankungen wie Morbus Behçet oder entzündliche Darmerkrankungen. Dies sollte durch einen Arzt abgeklärt werden, damit sich die Grunderkrankungen gezielt bekämpfen lassen. Als gefährlich eingestuft werden muss Zungenkrebs – glücklicherweise nicht sehr häufig, aber im Falle eines Falles sollte er schnell erkannt und wirkungsvoll beseitigt werden.
Was bleibt?
Vom Tennis lässt sich vieles ableiten: über den Sport an sich, über das Verhältnis von Geheimnis und Taktik, am Ball wie im Leben, und natürlich über Zungendiagnostik in ihrer ganzen Breite – wenn man dabei nicht über die Stränge schlägt, sondern die Philosophie in Maßen dosiert. Erfreulicherweise können auch all jene, die keine Tennisstars sind, von der genauen Beobachtung ihrer eigenen Zunge profitieren.
